Kultur in anderen Räumen

Ich bin den digitalen Medien gegenüber sehr unschlüssig. Das liegt bestimmt daran, dass ich vor der Digitalisierung groß geworden bin und glaube, dass ein guter Song dringend eine schrammelige Gitarre braucht. Meistens jedenfalls. Auch hier werde ich bei näherem Überlegen unschlüssig und denke an gute Musik ohne Gitarre.
Wie sieht es aus mit der Möglichkeit der Kultur im Digitalen?

Ich fange mit all meinen Vorurteilen an. Wenn ich an die digitale Welt denke, kommen mir sofort Facebook, YouTube, Instagram in den Sinn und leiten mich gedanklich sofort zu Influenzern, Selbstdarstellern und Oliver Pocher weiter.
In dieser digitalisierten Welt inszenieren sich die Menschen, kommunizieren in vielen Teilen nicht direkt, face to face, sondern indirekt im world wide web. Natürlich ist ein Theaterstück oder ein Musikstück auch eine Inszenierung. Im Vergleich mit der medialen, selbstdarstellenden Inszenierung von Menschen, Influenzern und perfekt ausgeleuchteten Fotos und Filmen, ist die künstlerische Inszenierung, die vom anwesenden Zuschauer lebt, eine Inszenierung, die nur durch die Authentizität der Kunstschaffenden lebt, berührt und Begegnung ermöglicht.
Im inszenierten, digitalen Raum wird diese Begegnung gefiltert und erlaubt zwar Interpretationen, aber kaum Blickwechsel. Das irritiert mich und fühlt sich für mich nicht greifbar und authentisch an. In dieser Inszenierung geht um eine Person und weniger um die reine Auseinandersetzung mit einem Thema.
Vielleicht brauche ich hinsichtlich dieser vorurteilsbehafteten Meinung einen anderen Blickwinkel, um etwas Neues zu begreifen. Aber vielleicht will ich das auch gar nicht.
Alleine der Begriff Influenzeri*nnen macht mich wahnsinnig. Beeinflusser! Und sie beeinflussen und schaffen ein Menschenbild, das sich über äußere Darstellung und Inszenierung definiert. Oft ein Frauenbild, dessen Weiblichkeit gestaltet wird.
Ich schweife ab und komme zurück zur Kultur.

Vor einiger Zeit habe ich online einen sehr bewegenden Beitrag gefunden. Ein Poetry Slam von Babak Ghassim and Usama Elyas: „Hinter uns mein Land“. Dieser Text war nicht von den Künstlern gesprochen, sondern wurde noch mit Bildern unterlegt. Dieser Text hat mich zutiefst berührt, zu Tränen gerührt und angefüllt mit Gefühlen und Gedanken. Ich habe mitgefühlt, eine Geschichte erlebt und durchlebt und wurde auf mich zurückgeworfen. All das passiert mir auch im Theater.
Aber ich saß allein zu Hause und hatte den großen Wunsch, dort zu sein: im Zuschauerraum, inmitten von Menschen, mit denen ich dieses Erleben teilen darf. Fremden, die sich in diesem Moment und in diesem Erleben verbinden. Ich hätte die Stille gespürt, die Berührung, wäre in eine körperliche Erfahrung eingetaucht, die zwar nichts mit Körperkontakt, aber mit einem sinnhaften Körpererleben zu tun hat. Und nach der Stille hätte ich gerne in Augen geblickt, die mir spiegeln, was ich erlebt habe. Oder in Augen, die mich zu einem Gespräch, zu einer Auseinandersetzung herausfordern. Oder…
Ich bin froh, dass ich diesen Text hören durfte und er mich berührt hat. Aber mir fehlt der direkte Kontakt.

An dieser Stelle muss ich aber meine Vorurteile revidieren. Dieser Beitrag war nicht oberflächlich und selbstdarstellerisch. Und es gibt neben den bekannten Onlineformaten ja viele Plattformen im großen Netz, die wahrscheinlich sehr anspruchsvoll und kulturell wertvoll sind.
Vielleicht geht es auch gar nicht um ein „entweder oder“.
Vielleicht sind beide Möglichkeiten Kultur zu erleben berechtigt und wichtig?

Und neben der „Kultur im Digitalen“ und der „Kultur im Realen“, gibt es ja noch die „Kultur im Wohnzimmer“. Wenn ich zu Hause sitze und ein Buch lese oder Musik höre, habe ich auch kein Gegenüber, mit dem ich das Erleben teile, und es ist trotzdem wunderbar und mir fehlt nichts.

Wie erlebt ihr Kultur im Digitalen? Warum funktioniert manches im Wohnzimmer und anderes braucht eine Bühne und eine Zusammenkunft von Menschen?
Ich freue mich über einen Austausch!

Liebe Grüße
Katrin

8 Kommentare zu „Kultur in anderen Räumen

  1. Liebe Katrin, danke für diesen total direkten und super interessanten Text, über das was uns alle gerade enorm was angeht. Ich musste auch Lachen beim lesen..weil du so schön unverblümt die Vorurteile ( die ich total teile, musste ich feststellen) über Influencing und Netzkultur oder Kultur im Netz aufzählst.
    Aber ich finde du hast recht, sogar Filme schaut man ganz anders im Kino, wenn man das stockende Atem, das Gelächter oder die Tränen der Sitznachbar mitspüren kann. Klar lesen tut man meistens alleine, aber auch Musik ist bei einem Konzert so viel schöner und lebendiger als wenn sie aus den Wohnzimmerlautsprechern kommt. Sogar zur Musik die computergeneriert und gesampelt ist, muss gemeinsam getanzt werden …online zuhause clubben gehen macht doch auch nicht so richtig Sinn? Und Theater und Performance erst recht nicht. Obwohl ich sagen muss, ich war überrascht wie viel spass, die online Gruppenübungen am Wochenende machten…hätte ich nicht gedacht..🤔
    Meine Söhne sehen und leben das alles ganz anders….Ich befürchte ich bin da auch hoffnungslos altmodisch…vielleicht muss man einfach mehr kulturelle Sachen im Netz machen und ausprobieren. Das Gedicht von Babak Ghassim and Usama Elyas ist Wunderschön und so unglaublich traurig…Aber ja auch live vorgetragen ursprünglich. Ich muss sagen um Live Performances aller Art zugänglich zu machen, schätze ich YouTube und co. total, aber solche Plattformen können für mich auf keinen Fall die Körperlichkeit der ‚Wirklichkeit‘ in Kultur ersetzen! Danke für diese Gedankenanstöße Katrin und das Link..ihr Gedicht und ihr Performance berührt tief. Liebe Grüsse Anneke

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  2. Liebe Katrin, ich lese Deinen Text, der aufdeckt, manchmal schonungslos, ein wenig bissig ist, gespickt mit Ironie und elegantem Wortwitz. Ich durfte schmunzeln, aber auch die Ernsthaftigkeit dahinter erleben. Ich überlege gerade, wie eine „Loveparade“, deren Puls und Strömungen ich 4x in Berlin miterlebt habe, virtuell funktionieren würde. Gar nicht, fürchte ich, der Geist, der Spirit dieser Bewegung hätte so nicht transportiert werden können, erst recht nicht das grandiose Erleben auf der Autobahn in kilometerlangen Staus inmitten von Ravern einen Tag später – die Party wurde fortgesetzt. Noch heute überfällt mich eine Gänsehaut, wenn ich die Bilder sehe und Musik dazu höre, ich schließe die Augen und begebe mich auf eine Zeitreise, mir tun die Füße weh, ich werde nach „Steinen“ gefragt, neben mir kopuliert ein Pärchen am Baum, mit nichts als einer Decke drum herum, ich muss pinkeln, trau mich aber nicht, mich mitten in den Tiergarten zu hocken, wie es tausend andere machen, ich sehe nackte Leiber, leichte Bekleidung, abgefahrene Klamotten, der Rhythmus bestimmt meinen Lauf, meine Fortbewegung, ich sehe Marusha, Dr. Motte, Westbam, wie sie die Turntables bedienen, quatsche mit wildfremden Menschen, quetsche mich dichtgedrängt durch die Massen. Dieses Erleben, dieses Gefühl wäre virtuell über Youtube oder andere Kanäle nicht möglich, es wäre einfach nicht dasselbe. Noch nicht einmal eine Beschreibung dessen würde treffen, was wir damals empfunden haben. Und ich vermisse es, nicht mehr im Speziellen die Loveparade, aber zum Beispiel in den Irish Pub zu gehen, dem Geschrammel eines Szeneinterpreten zuzuhören, bekannte Songs mitzuträllern, mich austauschen zu können, das Gefühl zu haben, lebendig zu sein. Irgendwie begraben, das trifft wohl ein wenig die Stimmung. Danke für Deinen gedanklichen Rundgang. Liebe Grüße, Katrin

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  3. Es war möglicherweise Zufall, aber bevor ich mit dem Lesen Deines Beitrags begonnen habe, hatte ich gerade eine Stunde Evanescence (akustisch) auf dem Sofa hinter mir. Mit „My Immortal“ als grausam-herzbewegendes Finale, das ich (wie immer) nach den ersten beiden Worten von Amy Lee bis zum letzten Ton durchbeweint habe.

    Ich bin bestimmt kein Maßstab, aber ich gestehe, dass ich mit „Kultur im Wohnzimmer“ sehr gut klarkomme. Manchmal besser, als in der Menge. Manchmal sogar besser, als mit Freund:innen auf einem Event. Ich kann mit dem von Dir beschriebenen „sinnhaften Körpererleben“ von Kunst/Kultur sehr viel anfangen – und nicht selten (hauptsächlich bei Musik und Film) habe ich dieses Erleben lieber alleine. Und/oder in einem sehr geschützten Raum.

    Die Tatsache, dass manche Erlebnisse ohne die live-Erfahrung nur gedämpft fühlbar sind, stellt mich da manchmal vor das eine oder andere Problem. Was dann zur Folge hat, dass ich mich zu Veranstaltungen von einer gewissen Relevanz (für mich) alleine auf den Weg mache. Die unvergesslichsten live-Erfahrungen meines bisherigen Lebens hatte ich mutterseelenallein auf drei ausverkauften David-Bowie-Konzerten, die ich ums Verrecken nicht mit irgendjemandem teilen wollte – außer dem Rest der für mich komplett anonymen Menge. Offenbar brauche ich durchaus das „sinnhafte Körpererleben“. Die Augen, in die ich anschließend schauen könnte, fehlen mir allerdings sehr oft überhaupt nicht. Manchmal brauche ich die Bühne. Die Menschen allerdings eher nur als Komparsen für die Atmosphäre. Weniger zum Austausch.

    Irgendwie bin ich glaube ich sehr oft kein gutes Publikum.

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    1. Liebe Hoplocarida!
      Vielleicht bist du weniger ein „nicht gutes“ als ein anderes Publikum. Ich fand es sehr spannend, deine Gedanken zum Thema Wohn Zimmerkultur und körperliche Komparsen zu lesen.
      Und My Immortal in der Akustikversion – da kann einfach kein Auge trocken bleiben…
      Vielen Dank für deinen Beitrag.
      Liebe Grüße
      Katrin

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  4. Liebe Katrin, vielen Dank für den Link zu dem bewegenden Poetry Slam. Die digitalen Formate, mir ermöglichen sie Zugänge zu kulturellen Angeboten, die ich sonst nicht wahrgenommen hätte, schon weil die Wege in die Kulturstätten von hier für einen Abend machbar, aber oft weit sind und weil sie oft überlagert sind von den großen Musical-Theater-Konzert-Events. Ich kann Zuschauerin sein, Zuhörerin, mit Glück gibt es sogar die Möglichkeit, in Austausch z.B. mit einem Autoren/einer Autorin zu treten. Aber digitale Kommunikation ist für mich überwiegend monologisch, in kleinem Rahmen dialogisch, aber ersetzt niemals mimisch-gestisch-sprachlichlichen-Austausch im gemeinsamen Erleben vor Ort. Bettina

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